Veröffentlichungen

 

Erschienen in Startbuch Internet 2000, Falter Verlag Wien

 

 

The Future of Content – Inhalte online und offline

 

von Marion Fugléwicz-Bren

 

Das Problem ist nicht, dass Computer so denken wie Menschen. Das Problem ist vielmehr, dass Menschen beginnen, so zu denken wie Computer. Was war zuerst – die Henne oder das Ei? Und – wohin gehen wir? Ob man Platon, Kant, Hegel oder Marx liest: Das Form-Inhalt-Problem ist so alt wie die Philosophie selbst. Vereinfacht ausgedrückt: Ob es Substanz, Wesen oder Bewusstsein genannt wird, immer steht man auf der Suche nach den vermeintlich ursprünglichen Sinnfragen des Lebens vor der Entscheidung, was denn wichtiger sei: Das äußere Erscheinungsbild oder das, was darin enthalten ist.

IRL – in real life, im richtigen Leben – ist es nicht viel anders als im Internet. Wie sollte es auch? Nicht zuletzt geben die neuen Allianzen, die in den letzten Jahren am Mediensektor geschmiedet wurden, Aufschluss darüber, welch ungemein strategische Bedeutung dem Bereich der Content-Provider zukommt. Aus Time/Warner und Turner Broadcasting entstand anno 1996 der größte Medienkonzern der Welt. Der vorherige Spitzenreiter Disney wurde mit dieser Transaktion trotz weiterer Zukäufe auf Platz zwei verwiesen, gefolgt von Bertelsmann und Murdoch News Corporation. 1997 fusionierte dann die Bertelsmann-Tochter UFA mit der luxemburgischen RTL-Muttergesellschaft CLT zur CLT/UFA. 1999 brachte der Zusammenschluss von Viacom und CBS einen neuen weltgrößten Medienkonzern. Im Jänner 2000 schließlich erregte die America-Online(AOL-)Time-Warner-Fusion nicht nur Aufsehen, sie veränderte schlagartig die gesamte Medienlandschaft: Mit einer Investition von 190 Millionen Dollar, also gut 2,9 Milliarden Schilling, schluckte AOL die fünfmal größere Time Warner, das schon bis dahin weltgrößte Medienunternehmen. Sogar Branchenkenner staunten über diese reziproke Integration – das bislang spektakulärste David-und-Goliath-Phänomen des Internet-Business. Nur die Börse konnte eine solche Entwicklung möglich machen.

Wie werden Medien eigentlich bewertet? Und warum entdecken die Unternehmen weltweit zunehmend den Wert von Content?

 

Wer mit wem und warum?

Als das Internet – sicher auch etwa durch Firmen wie AOL – für die breite Masse erschlossen wurde, wurden Medieninhalte auf einen Schlag interessanter für das Netz. Und wer, wenn nicht Time Warner, hätte sich eher angeboten? Bringt der Konzern doch die ganze Palette ein, die Konsumenten heutzutage informiert oder auch unterhält, wie etwa die TV-Sender CNN oder Cartoon Network oder Magazine wie Time, Fortune, Money, People oder Sports Illustrated; darüber hinaus etwa fünfzig Musiklabels der Warner Music Group; die Filme der Warner Brothers; riesige Kabelnetze mit Hochgeschwindigkeitszugang zum Internet (darunter übrigens den mit 1,2 Millionen Anschlüssen dichtesten Knoten der Welt in New York City) und schließlich Telefonfirmen und Profisportvereine. Genial also der Schachzug, sich als Internet-Provider – konkret AOL – mit fünfundzwanzig Millionen Abonnenten (gemeinsam mit CompuServe) und im Besitz des Browserherstellers Netscape, mehrerer E-Commerce-Portale und Webmarken mit dem auszustatten, was die heutige Informationsgesellschaft "im innersten zusammenhält": Information. Und damit Content. Inhalte also.

Springt man – zumindest bildlich – über den großen Teich, so sieht die Entwicklung grundsätzlich nicht viel anders aus: In Deutschland machten etwa die drohenden finanziellen Engpässe der Kirch-Gruppe – bedingt vor allem durch den Einstieg in das digitale Fernsehzeitalter – und deren Versuch einer Kooperation mit Bertelsmann deutlich, dass es bei der Entwicklung neuer "Vertriebsmöglichkeiten" in der Medienbranche um erhebliche Investitionen geht: Seit 1994 geht der Streit zwischen Kirch, Bertelsmann, Murdoch – samt ihren seither gebildeten und wieder aufgelösten Allianzen – und den Kartellwächtern in immer neue Runden. Ob sich die digitalen Angebote eher als neue Form des Vertriebs oder eher als interaktive Formen entwickeln, ist noch offen.

Das Bild der Medienanbieter ist uneinheitlich: Wird einerseits versucht, Marktmacht durch die Bildung neuer Mammutkonzerne für herkömmliche Medienangebote zu erzielen, so will man andererseits durch Akquisitionen und Kooperationen in neuen Marktsegmenten Fuß fassen: Das Internet bietet jede Menge neuen Spielraum für Unternehmen aus festgefügten Märkten.

 

Immer beliebter: der personalisierte Content

Jeder Marketingfachmann weiß um die Wichtigkeit von Zielgruppen und Selektion. Jemand, der es gewohnt ist, Tag für Tag in der Frühstückspause seine Bild-Zeitung zu konsumieren, wird kaum großes Interesse an einem ausführlichen Studium der Zeit haben.

Eine der nahe liegenden Hauptherausforderungen des Internets war daher die Entwicklung des personalisierten Content, wie es etwa Firmen wie Yahoo, Amazon und andere Anbieter längst betreiben: Schon vor vier Jahren begann etwa Yahoo, personalisierten Content unter my.yahoo.com/ oder mein.yahoo.de/ anzubieten.

Was ein User davon hat? Auf den ersten Blick: das lokale Wetter, Kurznachrichten und die Aktienkurse auf seiner persönlichen Startseite. Alle Dienste können individuell eingestellt werden, keiner wird einem aufgezwungen. Eingefleischte Benutzer wie etwa Jason McCabe Calacanis, CEO der amerikanischen Online-Zeitung Silicon Valley Reporter, leben auf dieser Oberfläche. Er lädt nach eigenen Angaben an die fünfzig Yahoo-Seiten pro Tag herunter und verbringt rund sechzig Stunden im Monat in seiner Mailbox, Tendenz stark steigend. Seine Mitarbeiter hat er dazu angehalten, zumindest einmal täglich den Yahoo-Online-Kalender zu benützen. So können sie, egal wo sie sich gerade aufhalten, ihre Termine aufeinander abstimmen. Ein Mausklick genügt, um zu jedem Ereignis zusätzliche Informationen zu erhalten. Dieses Tool lässt sich außerdem noch mit den Organizern von Palm koordinieren. Von geschätzten fünfundsechzig Millionen Internetsurfern in den USA legen mittlerweile fast dreißig Prozent Informationen zu ihrer Person offen, um Zugriff auf individuell angepasste Angebote aus dem Netz zu erhalten. In Europa ist man derzeit freilich noch nicht so aufgeschlossen für die totale Offenlegung persönlicher Daten. Aber das ist – wenn auch kulturell äußerst spannend – eine andere Geschichte ...

 

Neue Nachrichten in neuen Form(at)en

Welche Auswirkungen haben nun all diese Entwicklungen auf die "Medienmacher" selbst – die Redakteure, Journalisten und Texter? Ihre Aufgabe besteht seit jeher im Analysieren, Selektieren und Formulieren. Hier verändern sich die Gegebenheiten durch vorgegebenes Informationsdesign, Informationstempo und Hardware – wie etwa WAP-fähige Handys, die nur über wenig Platz am Display verfügen. Das oberste journalistische Gebot lautet daher: kurze, prägnante Sätze, es zählen einzig die Hardfacts. Man geht vielfach davon aus, dass lange Texte im Web nicht gelesen, sondern lediglich überflogen werden. Je kürzer die Texte also sind, desto besser, denn – wer ins Netz geht, der weiß in der Regel genau, wonach er sucht. Und das möchte er so schnell wie möglich finden – zahlt er ja schließlich auch für sein Online-Vergnügen.

Für jeden Autor und Liebhaber der sprachlichen Finesse rollt sich mit dieser Zukunftsentwicklung auf ersten Blick ein wahrer Alptraum auf: Nie wieder soll es auf die Formulierung ankommen? Auf die schöngeistige oder auch nur feinsinnig geschliffene Ausdrucksweise? Stirbt das Feuilleton, die Reportage, der Kommentar? Mitnichten. Geisteswissenschaftler und ähnlich Gelagerte muss und wird es wohl immer geben. Dennoch leben wir in einer Konsumgesellschaft, die vor allem die Zeit-ist-Geld-Ökonomie in den Vordergrund stellt. Und hier kommt wieder das Thema Zielgruppe ins Spiel.

Abgesehen davon muss man in der Online-Berichterstattung – genauso übrigens wie im Printjournalismus – genau unterscheiden zwischen aktueller und Hintergrundinformation. Letztere wird im Web zugegebenermaßen vielleicht keine Hauptrolle spielen, aber auch das kann man nicht eindeutig postulieren. Immerhin spielen zumindest bei Internetrecherchen auch die Online-Artikel der renommierten Fachmagazine eine Rolle.

Was nehmen Online-Leser wahr – und was wollen sie wirklich? Werden lange Texte heutzutage überhaupt noch gelesen? Welche Art der Aufbereitung eines Themas wünscht der User? Wie fühlt er sich besser informiert? "Es ist eine Gratwanderung", sagt Gunnar Ritzmann, Chef vom Dienst bei n-tv Online. "Bleiwüsten", so der 32-Jährige, hätten auf der Website des Berliner Nachrichtensenders nichts zu suchen. Und wie sollte ein Online-Journalist nun informieren? – Kurze, abgehakte Sätze im Stakkatostil. Punkt. Möglichst ohne Verb. Punkt. Informationen häppchenweise. Punkt.

Bietet eine journalistisch gestaltete Website denn gar keinen Raum für ganze Sätze, vielleicht gar Wortspiele oder auch richtige Reportagen? Doch, sehr wohl. Tiefer gehende Informationen sollten ebenso zum Konzept eines Online-Auftritts gehören. Und wo wäre es leichter zu verwirklichen als im Medium Internet selbst? Eine sinnvolle Verlinkung und Themensplitting dienen als Wegweiser für die gut gemachte Site. Und somit bietet das Netz Platz für beide Formate: Das kurze Informationshäppchen ebenso wie die gründliche Aufbereitung eines Themas. Und dabei sei weder der Telegrammstil noch die Bleiwüste als obligatorisch anzusehen. Punkt.

 

Das Web und die gute alte Medienwelt

Online-Publikationen bieten vor allem bei (tages)aktuellen Informationen einen großen Vorteil für Konsumenten. Nischenangebote für spezielle Interessengruppen werden auch bei kleinen Auflagen durch den Kostenvorteil (kein Druck, kein Papier) realisierbar. Verlage und Buchhandlungen, die diese Sparten abdecken, sind auch immer häufiger im Internet zu finden. Auch für andere neue Bereiche ergeben sich zukünftig Chancen, da die wachsende Verbreitung des Internets im wirtschaftlichen und privaten Bereich zur unabwendbaren Tatsache geworden ist. Eine neue Form von Informationsanbietern, die die heutigen Funktionen von Verlag und Buchhandel zusammenfassen, könnten sich sogar als Informationsvertreiber im Internet etablieren. Der – inhaltliche wie ökonomische – Stellenwert von Online-Publikationen steigt damit zusehends. Greifen wir nun also eher zum neuesten Monatsmagazin oder zur Maus?

Immerhin lockt das Medium Internet mit allem Wissen dieser Welt. Und das auf einen Klick. Oder ein paar. Zugriff jederzeit, für jedermann. Kein Wühlen mehr in staubigen Papierbeständen, sondern digitale Information samt Bild und Ton, verbreitet in Lichtgeschwindigkeit via Glasfaser.

Der Leser alter Schule stirbt aus und wird abgelöst durch den E-Junkie, meint Jörg Albrecht in der schon erwähnten Zeit. Daten und Informationen saugt der E-Junkie aus dem Netz wie nie ein Mensch zuvor. Diese werden ihm mehr und mehr als eine Art Brei serviert, konsistenzlos, sozusagen vorgespien in einer Menge, die vom Umfang gegen unendlich, aber vom Nährwert Richtung null strebt. Albrecht ist nicht allein mit seiner Befürchtung. "De facto", glaubt etwa auch der Medienkritiker Neil Postman, "wird Information zu Müll." Wie das Weltall unvermeidlich den Wärmetod stirbt, ginge demnach die Gutenberg-Galaxis früher oder später im Rauschen der Kanäle unter.

Aber Prognosen sind unsicher. Vor allem, wenn es um die Zukunft geht. Sokrates hielt schon den Wechsel von der mündlichen Überlieferung zur Schrift für eine Katastrophe. Demosthenes dagegen soll nach dem Brand der Bibliothek von Athen den gesamten Thukydides neu diktiert und damit gerettet haben. Die Erfindung der Schrift war unbestritten ein Segen. Erleben wir jetzt – mit der Maus in der Hand und dem Finger am Klick – ihre Abschaffung? Sind wir tatsächlich, wie der Philosoph Vilém Flusser meinte, auf dem Weg ins "Universum der technischen Bilder"?

Von uns wird es abhängen. Von uns allen. Niemals war die Mündigkeit des Konsumenten so notwendig wie heute. Das World Wide Web ist nichts anderes als ein gigantischer Apparat von Querverweisen. Wer sich da zurechtfinden will, kann sich mühelos im Nichts verlaufen. Im Dickicht der Register und Kataloge, wo selbst Suchmaschinen von Suchmaschinen aufgestöbert werden müssen, verirrt sich der Suchende allzu leicht auf eine Metaebene scheinbarer Ordnung, die in Wahrheit nur noch das Chaos verwaltet.

 

Die Zukunft des Inhalts

Es könnten sich, so prophezeit der Literaturwissenschaftler George Steiner, in Zukunft verschiedene Arten des Lesens herausbilden. Lektüre zur Entspannung beispielsweise, schnell gekauft und genauso schnell verschlungen – ob zwischendurch oder unterwegs, konsumiert eben, so wie heute alles passiert. Zweitens Geschäftslektüre, Lektüre also, um sich auf dem Laufenden zu halten, mehr und mehr auf Meldungen und kurze Statements reduziert. Dazu zählen etwa E-Mails, Memos, Mitteilungen auf dem Handy oder Computerausdrucke. Aber möglichst nichts, was länger als eine Seite ist, denn die Zeit wird knapp und knapper. Drittens ein schwindender Rest an klassischer Lektüre, einer Lektüre, die Schweigen und Geduld voraussetzt. Zu diesen Fähigkeiten, die in Zukunft vermutlich immer weniger gefragt sind, werden im Laufe der Zeit vermutlich nur noch Spezialisten imstande sein.

Zuallererst sind natürlich die Medienmacher gefordert. Aber auch sie werden machtlos, wenn der Konsument ihre Vorschläge nicht mehr findet im Überangebot abertausender mehr oder weniger sinnvoller Informationen. Der Online-Journalismus steht erst am Anfang. Es gibt kaum Richtlinien und die wenigen vorhandenen sind unter den Spezialisten umstritten. Aber diese Art des "neuen Content" gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Form und Inhalt in ihrem Wandel zu kreieren oder zu rezipieren gehört zu den spannendsten Aufgaben unserer Zeit. Nein, unseres Lebens. Ähnlich wie die Entscheidung darüber, was denn wichtiger sei: Das äußere Erscheinungsbild oder das, was darin enthalten ist.

 

Marion Fugléwicz-Bren

marion@magnet.at

 

 

 

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